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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.10.2019


Born in Evin - Dokumentarfilm von und mit Maryam Zaree. Kinostart: 17. Oktober 2019
Helga Egetenmeier

Regisseurin und Schauspielerin Maryam Zaree wurde in dem berüchtigten politischen Folter-Gefängnis Evin im Iran geboren und kam als Zweijährige mit ihrer Mutter als Flüchtling nach Deutschland. In ihrer filmischen Spurensuche trifft sie Überlebende, spricht mit Expert*innen und sucht nach Kindern, die wie sie zur gleichen Zeit im gleichen Gefängnis geboren wurden. Ins Zentrum ihrer filmischen Spurensuche stellt sie …




... auch die Frage danach, warum sie mit ihrer Mutter nicht über die Zeit ihrer Geburt sprechen kann.

Um die Antwort zu finden sucht sie gezielt nach Menschen, die zu ihrer Geburtszeit ebenfalls dort geboren wurden. Bei dieser Suche findet sie Organisationen und Menschen, die eine politische und kritische Verbindung zum Iran haben. Sie bleibt immer auf der Suche nach den Kindern, die wie sie dort geboren wurden. Entstanden ist ein Film, der über seinen persönlichen Ansatz zeigt, wie tief sich Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen in das Leben, auch der nachfolgenden Generationen eingraben, ohne dass dies immer einfach erkennbar ist.

Bei der Suche nach ihrer Frage um die Umstände ihrer Geburt erhielt sie Antworten, die die persönlichen Konsequenzen von Verfolgung und Gewalt zeigen, wenn dieselben Täter bis heute an der Macht sind.

Mit ihrer Mutter über die Zeit ihrer Geburt zu sprechen war nicht möglich. Da sie sich diese Blockade nicht erklären konnte, drehte Maryam Zarree über diese Leerstelle in ihrem Leben ihren ersten Dokumentarfilm. Sie setzt darin die Hoffnung, einen Weg zu einem Gespräch mit ihrer Mutter zu finden und über andere Menschen, die zu derselben Zeit dort geboren wurden, Informationen über die ersten Jahre ihres Lebens zu erhalten.

Im Film zeigt sie ihr liebevolles Verhältnis zu ihrer Mutter, ihrem Vater und Stiefvater, sowie zu ihrer Stiefschwester. Doch trotz dieser Geborgenheit in ihrer Familie lässt sie die Frage nach den Umständen ihrer Geburt nicht los. Ihre politisch aktive Mutter Nargess war im vierten Monat schwanger, als sie und ihr Mann und zukünftige Vater Kasra, unter der Diktatur der Islamischen Republik in dem politischen Folter-Gefängnis Evin weggesperrt wurden.

Nachdenken über die Bedeutung der Geburt

Sowohl weltliche Überlegungen, wie ein Kind geboren werden kann - ob im Krankenhaus, im Geburtshaus oder in der heimischen Badewanne - als auch religiöse Erzählungen und Rituale, verweisen auf die Bedeutung der Geburt für die Mutter und das Kind. Dies spricht Maryam Zaree mit einem Zitat zu Beginn des Films an und verweist damit auch auf ihre langwierige Suche nach Antworten: "Eine Legende im Talmud besagt, dass, wenn ein Kind geboren wird, es eine Kerze über dem Kopf trägt, als Zeichen dafür, dass es alles weiß. Im Moment seiner Geburt bläst ein Engel die Kerze aus und das Kind vergisst wieder alles. Im Laufe seines Lebens dann, muss es sich wieder erinnern an all das, was es vergessen hat."

Vier Jahre verbrachte die Regisseurin mit ihrer Arbeit an dem Dokumentarfilm und der Suche nach den Umständen ihrer Geburt. Die Bilder dazu wurden klar und hell von der Kamerafrau Siri Klug eingefangen und stehen damit der Dunkelheit entgegen, die über dieser Vergangenheit hängt. Maryam Zaree macht sich gemeinsam mit den Zuschauer*innen auf die Suche nach der Bedeutung ihrer Geburt. Sie sagt, sie habe sich dabei von der Arbeit ihres Stiefvaters Kurt Grünberg, einem Psychoanalytiker und Kind von Holocaust-Überlebenden, inspirieren lassen. Er forscht dazu, wie Traumata von einer Generation auf die nächste übertragen werden und trifft sich im Überlebenden-Treff der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) in Frankfurt seit 15 Jahren wöchentlich mit Shoa-Überlebenden.

Auf der Suche: "Wer, um Himmels Willen, ist schon im Gefängnis geboren?"

Ein großer Wunsch von Maryam Zaree war es, Menschen zu finden, die ihr etwas über die Zeit im Gefängnis von Evin erzählen können, oder dort geboren wurden. Dazu besuchte sie ihre Tante Sima in Paris, von der sie vor Jahren per Zufall erfahren hatte, wo sie geboren wurde. Doch heute möchte diese nicht mehr darüber sprechen. Daher trifft sie sich auf Empfehlung ihrer Mutter auch mit der Menschenrechtsaktivistin Shadi Amin. Diese entwickelte eine spezielle Interview-Technik, mit der sie ehemaligen weiblichen politischen Gefangenen Hilfe anbietet. Aber auch damit kommt sie kaum einen Schritt weiter.

Zweifelnd daran, ob ihre Suche und deren Dokumentation eine gute Idee war, trifft sie sich mit der Soziologin Chala Chafiq. Sie ist Expertin für das Gefängnissystem im Iran und ermutigt sie, weiterzumachen. Ganz in Sinne, darauf zu beharren, als Zeitzeugin ein Recht auf ihre Vergangenheit zu haben und damit auch eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber, fordert Chafiq sie auf, das Schweigen nicht zu akzeptieren. Und so ist der Film auch ein Zeugnis dafür, wie bedeutungsvoll die individuelle Geschichte als Teil der kollektiven Geschichte ist.

Als Maryam Zaree ihre Suche fortsetzt, trifft sie, neben weiteren Einzelpersonen und Organisationen zur menschenrechtlichen und politischen Lage im Iran, auch auf die fast gleichaltrige und in Paris lebende Anthropologin Chowra Makaremi. Diese sagte bei dem sogenannten "Iran-Tribunal" im Oktober 2012 im Friedenspalast in Den Haag aus, einer von Opfer-Angehörigen und Jurist*innen gegründeten sozialen Bewegung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Iran in den 1980er Jahren. Ihre Mutter wurde dort 1988 ermordet, doch sie wurde nicht im Gefängnis geboren. Immer in der Hoffnung, doch noch von einem Kind zu erfahren, besuchte sie die "7. nationale Versammlung der politischen Gefangenen (Iran)", die ihr zuerst misstrauisch gegenüber stand, da das iranische Regime ihren Geheimdienst auch zu solchen Veranstaltungen schickt. Doch auch hier konnte sie ihr Projekt nur kurz vorstellen und um Hilfe bei ihrer Suche bitten.

Es sei hier schon verraten, dass Maryam Zaree schließlich mit Sahar Delijani ein Kind findet, das zur selben Zeit wie sie im Gefängnis von Evin geboren wurde. Die mit ihrer Familie nach Kalifornien migrierte iranische Schriftstellerin verarbeitete ihre Familiengeschichte in ihrem Roman "Kinder des Jacarandabaums".

AVIVA-Tipp: Maryam Zaree hat eine mutige Entscheidung damit getroffen, als Zeitzeugin und Flüchtling ihre Geburt in einem Foltergefängnis in das Zentrum ihres Films zu stellen. Aufgrund ihrer fehlenden Erinnerungen lässt sie diejenigen zu Wort kommen, die sich politisch und persönlich mit der iranischen Diktatur auseinander setzen. Aber auch diejenigen, die schweigen, bekommen ihren Platz. Damit gelingt es ihr, für deren Motive Verständnis zu erzeugen und auch Mut zu machen, das Schweigen zu brechen. Denn anhand ihrer Biografie zeigt die Regisseurin auch, dass schmerzhafte und angstbesetzte Erinnerungen ein wichtiger Teil der kollektiven Geschichte sind und ausgesprochen werden müssen, um sie gegen das Vergessen zu schützen und Anklage gegen die Brutalität politischer Machthaber erheben zu können - und auch, um das eigene Leben zu verstehen.

Zur Regisseurin: Maryam Zaree wurde 1983 im Gefängnis Evin in Teheran geboren. 1985 flüchtete ihre Mutter mit ihr vor der politischen Verfolgung nach Deutschland, wuchs in Frankfurt am Main auf. Von 2004 - 2008 absolvierte sie ein Schauspielstudium an der staatlichen Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg und wirkte während dieser Zeit auch in Film- und Fernsehproduktionen mit. Bekannt wurde sie durch die Hauptrolle "Maryam" in dem Kinofilm "Shahada" (2010) von Burhan Qurbani, für die sie den Preis für die Best Leading Performance beim Monterrey Film Festival in Mexiko, sowie eine besondere Erwähnung ihrer schauspielerischen Leistung beim 37. Internationalen Filmfestival in Gent erhielt. Neben ihren Film- und Theaterauftritten ist sie auch regelmäßig im Berliner Tatort (seit 2015) mit Meret Becker und Mark Waschke als Gerichtsmedizinerin Nasrin Reza zu sehen. In der Serie "4 Blocks" (seit 2017) spielt sie als Khalila eine der weiblichen Hauptrollen und bekam dafür den Grimme Preis und in dem für den Oscar eingereichten Spielfilm "Systemsprenger" (Kinostart am 19. September 2019) hat sie eine Nebenrolle. Als Autorin gewann sie mit ihrem ersten Theaterstück "Kluge Gefühle" den AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2017.

Zu ihrer Mutter: Dr. Nargess Eskandari-Grünberg wurde 1965 in Teheran geboren und ist heute Kommunalpolitikerin für Bündnis 90/Die Grünen. Als erste Migrantin kandidierte sie in Deutschland im Jahr 2018 für das Amt der Oberbürgermeisterin für Frankfurt am Main und kam dabei auf den dritten Platz. Im Iran setzte sie sich, wie auch ihr Mann Kasra Zaree, politisch aktiv für die Freiheit ein, zuerst unter dem Schah-Regime und dann gegen die Diktatur des Islamischen Regimes. Sie wurde verhaftet und kam schwanger in das Foltergefängnis Evin, wo sie ihre Tochter Maryam zur Welt brachte. Nach ihrer Entlassung 1985 flüchtete sie als Verfolgte des Islamischen Regimes aus dem Iran und kam am 24.12. mit ihrer damals zweijährigen Tochter in Frankfurt an. Alleinerziehend, da ihr Mann Kasra Zaree weiterhin in Evin im Gefängnis inhaftiert war, arbeitete sie neben ihrem Studium der Psychologie und Psychiatrie. Heute führt die promovierte Psychologin eine eigene Praxis als psychologische Psychotherapeutin und leitet für das Deutsche Rote Kreuz die Beratungsstelle HIWA! für ältere Migrant*innen.

Zur Kamerafrau: Siri Klug wurde in Österreich geboren und studierte, nach ihrem kaufmännischen Abitur in Bregenz, Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität in Berlin. Danach studierte sie Kamera- und Lichtgestaltung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und lernte u.a. bei dem renommierten Bildgestalter Michael Ballhaus. Sie war 2009 Teilnehmerin der Master Class des Universitätsprofessors an der Filmakademie Wien, Christian Berger, und des Talentcampus der Berlinale. Als Kamerafrau und Bildgestalterin ist sie weltweit für Filmproduktionen tätig und dreht Dokumentar- und Spielfilme. Seit 2010 gibt sie an Hochschulen in Deutschland und Österreich Seminare zu Kamera- und Lichttechnik, Bildgestaltung und -dramaturgie. Neben anderen, führte sie die Kamera für die Dokumentarfilme "Song from the Forest" (2013, "Mein Name ist Khadija" (2015), "Das Fieber" (2017) und "Mein Vater Claudia" (2019).
www.siriklug.com

Auszeichnungen
Berlinale 2019: Kompass-Perspektive-Preis
Fünf Seen Filmfestival 2019: Dokumentarfilmpreis
Hessischer Filmpreis 2019: Newcomerpreis

Born in Evin
Deutschland, Österreich 2019
Regie und Drehbuch: Maryam Zaree
Kamera: Siri Klug
Verleih: realfiction
Lauflänge: 95 Minuten
Sprachen: Deutsch/Englisch/Französisch/Farsi / Untertitel: Deutsch
Kinostart: 17.10.2019
Der Trailer und mehr zum Film sowie Previews, Premieren & Sondervorstellungen mit Filmgesprächen unter:
www.realfictionfilme.de und www.facebook.com/borninevin

Weitere Informationen zum Thema unter:

www.sahardelijani.com
Sahar Delijani, geboren 1983, ist eine iranische Schriftstellerin, deren Familie aus politischen Gründen 1996 aus dem Iran nach Kalifornien emigrierte. In ihrem Debütroman "Kinder des Jacarandabaums", der in dreißig Sprachen übersetzt wurde, erzählt sie ihre Familiengeschichte. Eine der Hauptfiguren im Roman ist Neda, die im Gefängnis von Evin geboren wurde.

www.iwsf.org
The Iranian Women´s Studies Foundation (IWSF) is a feminist non-profit organization with no affiliation to any political or religious group. It aims to provide a forum for the exchange of ideas on issues related to Iranian women. (Website mainly Persian)

www.juedische-allgemeine.de: "Das Programm hält uns fit"
Ein Artikel zum Überlebenden-Treff der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) in Frankfurt, der vor 17 Jahren ins Leben gerufen wurde und damals als Pilotprojekt galt. Kurt Grünberg gehört mit seinem Kollegen, dem Psychoanalytiker Isidor Kaminer, von Beginn an zum Betreuungsteam. Heute gibt es im Bundesgebiet knapp 30 dieser Einrichtungen.

www.boell.de
Diese Website der Heinrich Böll Stiftung bietet monatlich einen "Iran-Report" an, der als pdf-Dokument kostenfrei heruntergeladen werden kann.

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Beitrag vom 15.10.2019

Helga Egetenmeier